Ehen in Philippsburg

Walser, Martin, 2004
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Medienart Buch
ISBN 978-3-937793-08-5
Verfasser Walser, Martin Wikipedia
Systematik Bd - Belletristik deutsch
Schlagworte ehe, belletristik, belletristische darstellung, Wirtschaftswunder, Sozialer Aufstieg
Verlag Süddt. Zeitung
Ort München
Jahr 2004
Umfang 296 S.
Altersbeschränkung keine
Reihe Bibliothek / Süddeutsche Zeitung
Reihenvermerk 9
Sprache deutsch
Verfasserangabe Martin Walser
Annotation Leseprobe. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.

Bekanntschaften
In einem überfüllten Aufzug schauen alle Leute aneinander
vorbei. Auch Hans Beumann spürte sofort, daß man fremden
Menschen nicht ins Gesicht starren kann, wenn man ihnen so
dicht gegenübersteht. Er bemerkte, daß jedes Augenpaar sich
eine Stelle gesucht hatte, auf der es verweilen konnte: auf der
Zahl, die angibt, wieviel Personen der Aufzug tragen kann;
auf einem Satz der Betriebsordnung; auf dem Stück Hals, das
einem so dicht vor den Augen steht, daß man das Geflecht
aus Falten und Poren noch nach Stunden aus dem Gedächtnis
nachzeichnen könnte; auf einem Haaransatz mit etwas Kragen
daran; oder auf einem Ohr, in dessen unregelmäßigen
rosaroten Serpentinen man allmählich der kleinen dunklen
Öffnung zutreibt, um darin den Rest der Fahrt zu verbringen.
Beumann dachte an die Fische in den Hotelaquarien, deren
reglose Augen gegen die Scheiben stehen oder auf der Flosse
eines Schicksalsgefährten, der sich offensichtlich nie wieder
bewegen wird.
Die mit ihm fuhren, mochten Abonnenten und Annoncenvermittler
sein, Journalisten, Photographen und Beschwerdesüchtige,
die zum "Abendblatt" in den unteren Stockwerken,
zum "Philippsburger Tagblatt" in den Stockwerken vier
bis acht oder ganz hinauf wollten, in die oberen sechs Stockwerke,
in denen, wie der Fahrstuhlführer bekanntgab, die
"Weltschau" untergebracht war: im obersten, im vierzehnten
Stockwerk erst residierte der Chefredakteur der "Weltschau",
Harry Büsgen. Beumann mußte einen Augenblick verschnaufen,
als er oben ankam, mußte das Kitzeln in der Magengrube
verreiben und das Prickeln auf der Rückenhaut und im
Gesicht verrinnen las sen, das ihn befallen hatte angesichts
dieses Riesenturmes aus Stahl und Glas, in dessen Rückgrat
er mit dem Aufzug in ein paar Sekunden hochgeklettert war,
mühelos, geräuschlos, so leicht, wie eine Quecksilbersäule
im Thermometer steigt, wenn die Temperatur plötzlich ungeheuer
zunimmt.
Im Vorzimmer von Herrn Büsgen tändelten zwei Mädchen
mit Schreibmaschinen. An ihren waagrecht schwebenden
Armen hingen leicht wie Blüten die Hände, und von diesen
hingen noch leichter die Finger herab, die auf den Tasten
der Maschinen tanzten. Zwei Gesichter drehten sich gleichzeitig
ihm zu und lächelten das gleiche Lächeln. Eine fragte
ihn und wies ihn dann in die Tür, die von diesem Vorzimmer
in ein anderes Vorzimmer führte, in dem nur noch eine Frau
saß, eine ältere schon, kleingliedrig, gelbgesichtig, schwarzhaarig
und mit großen, etwas schrägliegenden Augen, die
sie ihm entgegenhob, während sie fragte, was er wünsche
und ob er angemeldet sei. Er gab ihr den Brief, den sein Professor
an den Chefredakteur geschrieben hatte. Sie drückte
auf einen Knopf, sagte vor sich hin, daß ein Herr Beumann
da sei, empfohlen von Professor Beauvais vom Zeitungswissenschaftlichen
Institut der Landesuniversität. Ein Lautsprecher
antwortete, Herr Beumann möge seine Philippsburger
Adresse dalassen, man gebe ihm Bescheid, jetzt im Augenblick
könne er leider nicht empfangen werden. Beumann sagte,
eine Philippsburger Adresse müsse er sich erst beschaffen.
Aber um ja nichts falsch zu machen, ließ er dann doch
die Anschrift von Anne Volkmann im Vorzimmer des Chefredakteurs.
Das war eine in Philippsburg beheimatete Studienkollegin.
Sie hatte ihr Studium nicht beendet. Wahrscheinlich
wohnte sie jetzt bei ihren Eltern. Er hätte sie sowieso
früher oder später aufgesucht, um zu sehen, was aus ihr geworden
war.
Exemplare
Ex.nr. Standort
37439 Bd, 912

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